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Day 23 - Der verstaubte Sextant

Die Orientierung auf See ist heute durch GPS, Plotter und Routing-Software eine Angelegenheit der Informationstechnologie. Man kennt jederzeit seinen Standort, bekommt detaillierte Wetterdaten und Routenvorschläge - jedenfalls wenn das Internet via Iridium funktioniert, was auf dem Atlantik nicht immer der Fall ist. Normalerweise ist die Standortbestimmung mit der heutigen Elektronik keine spannende Sache mehr.

 

Die alten Techniken der terrestrischen und astronomischen Navigation haben aber durchaus noch ihre Berechtigung, denn Elektronik kann ausfallen. Und so mache ich mich in den Tiefen der Stauräume des Vorschiffs auf die Suche nach einer verstaubten Holzkiste, in der sich der Bordsextant verbirgt, Marke „Freiberger Präzisionsmechanik“. Früher war das Geheimwissen um den Sextanten und die Sterne quasi die Lebensversicherung der Kapitäne; die exklusive Kenntnis des Weges zur nächsten Hafenspelunke hielt die Besatzungen von der Meuterei ab. Auf jeden Fall sieht das Ding mit den vielen Spiegeln und Blendgläsern eindrucksvoll aus. Ausgerüstet mit dem Basiswissen über Azimut, Deklination und Gesamtbeschickung, mache ich mich an einem Schwachwind-Tag an meine erste Mittagsbreite. Ganz ohne Elektronik komme ich jedoch nicht aus: das „Nautische Jahrbuch“ hatte ich mir bereits zu Hause aufs Handy geladen.

 

Wenn die Sonne genau in Süd steht, hat sie ihren höchsten Stand und kann leicht für die Bestimmung des Breitengrades, auf dem sich die Yacht befindet, verwendet werden. Theoretisch einfach, jedoch in der Praxis selbst auf dem mäßig schaukelnden Achterdeck der Kivavera gar nicht so leicht. Erst einmal gilt es, die richtige Anzahl an Filtern vor den Spiegel zu drehen - bei zu wenigen Spiegeln droht Augenschaden. Dann muss man das Gestirn erst einmal erwischen und den Sextanten so auspendeln, dass man den kleinsten Winkel zum Horizont misst, d.h. der Sextant senkrecht ausgerichtet ist. Alles immense Fehlerquellen.

 

Endlich gelingt es mir, die Sonne zu schießen und den Höhenwinkel abzulesen. Das Ergebnis der Berechnung ist ernüchternd: drei Breitengrade Abweichung zum GPS-Standort!

Wie soll das erst bei bewegter See und dann vielleicht mit einem kleinen Stern funktionieren? Da hilft nur: Üben!

 

Das Gerät wandert einstweilen wieder in seine Kiste zurück.

 

Erich

 

P.S. latest position of KIVAVERA see tab POSITION&ROUTE - aktuelle Position während Atlantiküberquerung

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Kommentare: 3
  • #1

    Ulli Tie (Mittwoch, 16 Februar 2022 20:53)

    ….auf der Karte sieht euer Kurs so aus, als kämt ihr in einer attraktiven Gegend an… und das bald !
    Alles Gute auf den letzten Seemeilen !
    Hier sind Sturm- und Orkanböen. Richtig ungemütlich. Glg

  • #2

    philipp sollberger (Mittwoch, 16 Februar 2022 21:28)

    Sehr guter Artikel! Mittagsbreite in der Theorie tönt einfach...90 % aller Messungen gelten für die Sonne inkl. Mittagsbreite. Mond und Sterne sind die grossen Ausnahmen und natürlich auch complexer! Bei einer Atlantiküberquerung ist das ideal, da man beim Küstensegeln immer mit einem künstlichen Horizont arbeiten muss. Chapeau für die Messung!!!
    LG

  • #3

    Hilde (Donnerstag, 17 Februar 2022 09:20)

    Lieber Erich, liebe Crew,
    dass das die Lebensversicherung der Kapitäne damals war, leuchtet sofort ein. Ohne Orientierung im endlosen Blau....unvorstellbar!
    Sieht aus, als würdet ihr in wenigen Tagen ankommen. Bin gespannt, wie ihr das erleben werdet. Ganz liebe Grüße, und ein Hoch auf die Navigation!!
    Hilde